
Von Drachen, Schaukelpferden und Löwenherzen
Wie kann es so etwas Schreckliches geben, dass einer sterben muss, obwohl er noch nicht einmal zehn Jahre alt ist? Ganz am Anfang von Astrid Lindgrens spätem Roman „Die Brüder Löwenherz“ aus dem Jahr 1973 steht diese Frage, die bereits zeigt, dass es sich zwar um ein Kinderbuch handelt, aber um eines, das die ganz großen und schweren Fragen thematisiert. Ganz am Anfang der Theaterfassung im Theater Pfütze stellt der neunjährige, todkranke Krümel (Maria Magdalena Mund) diese Frage – von den Treppen im Zuschauerraum, nicht von der Bühne aus, im Stehen und ohne eine theatralische Gestaltung dieser tödlichen Krankheit. Denn so wie sich der Roman mit existentiellen Problemen des Menschseins beschäftigt, bringt eine Theateraufführung des Stoffes ihre eigenen großen Fragen mit sich.
Nicht nur, dass die beiden namensgebenden Brüder von zwei Frauen dargestellt werden, es sind auch erwachsene Frauen, keine Kinder. Wie lässt sich diese Spannung fruchtbar machen für eine Bühnenfassung? Nicht durch eine Umbenennung in „Die Schwestern Löwenherz“, was aus urheberrechtlichen Gründen ohnehin unmöglich gewesen wäre. Das Ensemble unter der Leitung von Maike Bouschen hat einen anderen Weg beschritten. Maria Mund und Elisa Merkens laufen in Stiefeln und langen Hemdkleidern durch die Welt von Nangijala, dem Land der Lagerfeuer und Sagen. Sie sind Brüder und Schwestern zugleich, Frauen und Jungen gleichermaßen. So vermeiden sie die Peinlichkeiten, die damit einhergehen würden, sich für einen Neun- und einen Dreizehnjährigen auszugeben. Stattdessen werden die jungen Zuschauer und Zuschauerinnen mit der Mehrdeutigkeit der Figuren konfrontiert, die stehen gelassen wird.
Um sicherzugehen, dass die vielen Namen, Figuren und Handlungen klar werden, ohne die Szenen mit Erklärungen zu überfrachten, besuchten Mitglieder des hauseigenen Dramaturgiekurses für Kinder, die „Drama Lamas“ eine der Proben und gaben Regie und Schauspielern Feedback aus der Warte der eigentlichen Zielgruppe des Stücks. Was Kindertheater schaffen kann, beweist die Inszenierung mit der Ausstattung von Valentina Pino Reyes in ihren allerbesten Momenten eindrucksvoll. Die Stränge aus bunten Glühbirnen mit ihren Lichteffekten, die Klänge und die Worte schaffen dann Bilder, an die keine Verfilmung herankäme: Da blinken Sterne in einem unendlichen Nachthimmel, wagt sich Krümel trotz seiner Angst alleine über einen steilen Bergpfad, kriecht der Drache Katla aus seiner Höhle, unter der ein riesiger Wasserfall ins Tal stürzt. Und dann gibt es ein paar Momente, in denen die Dramaturgie nicht ganz sitzt und man hinauskatapultiert wird aus den inneren Bildern, und dann turnen Jonathan und der finstere Hubert (Christof Lappler) auf einem überdimensionalen Schaukelpferd herum, das die Bühne beherrscht, und die Kostüme wirken wie Verkleidungen.
Dabei zeigen alle fünf Darsteller – Christine Janner als Taubenkönigin und Freiheitskämpferin Sophia und Jürgen Decke als nur scheinbar jovialer und leutseliger Wirt Joschi – in vielen Szenen beeindruckende Leistungen, nehmen sie die großen und die kleinen Zuschauer und Zuschauerinnen mit hinein in eine Welt, die so schön sein sollte, und in der es doch Abenteuer gibt, die es nicht geben dürfte. Eine Welt, in der Wölfe heulen und Tyrannen die Freiheit unterdrücken wollen. Und so muss Krümel, der jetzt Karl Löwenherz ist, auch wenn er sich nicht so fühlt, erkennen: „Manchmal muss man etwas Gefährliches tun, sonst ist man kein Mensch, sondern nur ein Häuflein Dreck.“ In der Liebe zu seinem bewunderten Bruder wächst er über sich hinaus, lernt, dass mutige Entscheidungen etwas bewegen können – und dass sie ihren Preis haben. In einer der bewegendsten Szenen des Stücks akzeptieren die beiden Brüder diese Lektion, und entscheiden sich, ihr Schicksal mutig in die eigenen Hände zu nehmen. Es ist ein Ende, für das Astrid Lindgren kritisiert und gelobt wurde, ein Ende, das den Kindern im Saal einiges zumutet, aber auch ihre Fähigkeiten ernst nimmt, schwierige Situationen selbst zu durchdenken. Und auch die Erwachsenen werden hineingenommen in eine Geschichte, die Wahrheiten über die Welt vermittelt, in der es oft sehr dunkel ist und die Hoffnung dennoch nicht verlöscht.


